Tanzen - nur was für Mädchen? (23.01.2020)

Jetzt räumen wir mit einem Ammen-Märchen auf - Warum wirklich in Tanzkursen Jungs wie Männer fehlen


Ein Artikel aus der „Musik, Spiel und Tanz“-Zeitschrift 2/19 (S.  6-9 von A. Ostertag) nehme ich zum Anlass ein diesem Thema mal genauer nachzugehen und einfach mal den aktuellen Wissenstand hierzu zu prüfen. Ich lese das Magazin unheimlich gerne, finde stets zahlreiche Anregungen darin und mag die Art der Autoren zu schreiben. Hin und wieder merke ich, dass meine Wahrnehmung nicht ganz dieselbe ist bzw. mich die ein oder andere Antwort nicht ausreichend zufriedenstellt. Daher, liebe Andrea, sieh diesen Artikel lediglich als Ergänzung :-D

Ausgangspunkt: Meine Unterrichtssituationen und -erfahrungen

Als Mama eines kleinen Jungen brenne ich seit dem er auf der Welt ist für Jungs-Themen, denn ich weiß viel über die Entwicklung von Mädchen, doch ich hatte Nachholebedarf. Meine Lücken schließen sich und ich lese viel.
Ich unterrichte seit Jahren viel, Kinder (mit Begleitperson) ab dem Laufalter bis zum Tanzen ab 4 Jahre (dann allein), bis ins Teensalter und habe folgendes immer wieder in meinen Statistiken festgestellt: umso älter die Kinder, desto weniger Jungs sind in den Kursen der Kids. Auch in den zahlreichen Hospitationen bei meinen Kollegen (in der Ausbildungszeit und in den Coachings) und dem Austausch untereinander – alles berichten von den gleichen Tatsachen:
Jungen tanzen, wenn, dann (fast) immer gerne in Kursen, wo auch andere Jungs sind und bevorzugen Tanzstile, in denen sie sich „mehr“ auspowern können als in herkömmlichen Kindertanzkursen wie beim Breaken oder im Streetdance/Hip Hop.
Als Jugendliche kommen sie dann auch in den Paartanz wieder, wenn sie überhaupt als Kind angefangen haben, und dann eher dann, wenn es an der entsprechenden Schule üblich ist, in solch einen Kurs zu gehen z.B. in der 8. oder 9. Klasse. Oft lösen dann nach dem obligatorischen Tanzjahr, auch wenn der Junge Gefallen am Tanzen fand, andere sportliche Angebote seinen Fokus ab.

Schon im Kindesalter

… scheint es für Mädchen selbstverständlicher zu sein zum Tanzen zu gehen als für Jungs und später bedauern viele Frauen alleine zum Tanzen gehen zu müssen, statt mit ihrem Partner. Jungs kommen, wenn dann ehr später als früher in den Tanzkursen hinzu und dann auch meistens in Tanzstile, die kraftvoller getanzt werden.

Warum  ist das so? Es scheint ein durchgängiges Phänomen zu sein, gibt es dafür  eine logische Begründung?

Die Antworten, die es derzeit gibt bzw. die ich als Antwort erhalte, reichen mir persönlich nicht mehr aus (und der/die du den Blog-Artikel liest, offenbar auch nicht mehr, was für dich spricht): ich gehe gerne den Dingen auf den Grund, um Antworten zu finden. Und natürlich um daraus die Art von Schlüssen zu ziehen, die meinen und deinen Unterricht voranbringen, so dass wir noch erfolgreicher auf die Tanzschüler bzw. Kunden eingehen können.


Vielleicht mehr Kundenorientierung?

Tanzstunden und –kurse sind, trotz allem schulischen Aspekten, weil wir uns in der freien Markwirtschaft bewegen, Dienstleistungen, deren Erfolg m.E. sich nur daran bemessen sollte, ob die Tanzvermittlung erfolgreich war, d.h. ob der/die Tanzstile vom Tanzschüler erlernt und angewandt werden konnten. Ich weiß auch, dass das manche KollegInnen nicht hören wollen, dass wir Dienstleister sind und etwas verkaufen, und sich vorrangig als Lehrer sehen; doch es ist Fakt und spätestens als Tanzschulunternehmer merkst du deutlich, dass du etwas verkaufst. Und deswegen suchen wir auch Mitarbeiter, die gut unterrichten können, und welche die Voraussetzungen mitbringen, dass Kunden/Tanzschüler weiter machen wollen. Denn an einem guten Abschluss lässt sich nicht ablesen, wie gut der- oder diejenige das Tanzunterrichten und den Umgang mit den Menschen beherrschen, so dass diese sich rundum wohlfühlen. Da hilft es auch nicht wie ein Profi Tanzen zu können, denn es zählt vor allem (tanzen sollte der oder diejenige schon schön können als Vorbildfunktion), was er/sie als Unterrichtende/r drauf hat. Es gibt so viele wichtige Faktoren für einen gelingenden Tanzunterricht/Tanzstunde oder eine gute Tanzvermittlung – Kernpunkt ist der Mensch, der ins Tanzen bringt.

Meine Fragen: Liegt es also am Unterricht, dass die Jungen nicht genauso zahlreich wie die Mädchen kommen? Kann man mit einem anderen Unterricht mehr Jungen gewinnen? Und wenn ja, was kann ich genau tun, damit die Jungen kommen und bleiben? Oder liegt es im System Schule, dass die Jungen ganz was anderes wollen?

Tanzen ist ur-männlich

Der Urtyp des Mannes tanzte bereits – wenn du mehr dazu erfahren möchtest, dann lies gerne nochmal in meinem Blog-Artikel  Der Bewegte Mann – und auch der männliche Nachwuchs wurde „angelernt“ und ins Tanzen gebracht.
Hier stellt sich also für mich nicht die Frage, ob Männer zum Tanzen in der Lage sind, also körperlich wie geistig, sonder ausschließlich, ob es ganz bestimmte Gründe dafür gibt, warum sie nicht so früh am Tanzen interessiert sind (in der Regel) wie Mädchen (i.n.R.)?

Seit Jahren vertiefe ich mich durch mein Selbststudium in die Forschungsarbeit von Vera F. Birkenbihl als Begründerin des gehirngerechten Lernens und Unterrichtens (die nebenbei in ihrer Zeit in Amerika auch als Tanzlehrerin gearbeitet hat). Als examierte Pädagogin reizt es mich immer wieder neben der Praxis mir Anregungen und den aktuellen Wissenstand aus der Theorie zu holen, gerade dann, wenn ich merke, dass ich „festhänge“.
Tanzen ist also nicht geschlechtsabhängig und demnach männlich wie weiblich bzw. menschlich.


Antworten aus der Entwicklungspsychologie

An dieser Stelle muss ich gleich daran erinnern, dass niemand, auch Kinder nicht, zu 100% weiblich oder 100% männlich ist. D.h. dass es natürlich die tanzenden Jungs gibt und die raufenen Mädchen, aber extrem selten.

Schauen wir auf die Entwicklung der sensiblen Phasen für bestimmte Aspekte von Kindern, dann kann man sehr schnell feststellen (u.a. bei Birkenbihl), dass sich Jungen und Mädchen in puncto Bewegung unterschiedlich entwickeln. Hier gibt es inzwischen eine gute Arbeits-Hypothese, z.B. für den Grund, warum Jungen ein stärkeres Bewegungsbedürfnis als Mädchen haben.
„Hier überkreuzen sich die Entwicklungswege von Jungen und Mädchen regelrecht, d.h.: Jungen entwickeln VOR der Pubertät die sogenannte Grobmotorik, während Mädchen zuerst feinmotorisch >>zugange<< sind. Nach der Pubertät ist es umgekehrt.“ (Birkenbihl S. 25)
Das bedeutet, dass kleine Jungen wenig Interesse daran haben sich feinmotorisch auszuprobieren, sehr wohl aber, ihre Kräfte zu entwickeln. Warum ist das so?
„Jungen entwickeln (mit 40% der Körpermasse) fast die doppelte Muskelmasse (Mädchen 24%), also müssen sie fast doppelt so viele notwendige Nervenbahnen für den Marionettenspieler im Kopf anlegen, (also den Bereich, der die Muskeln lenkt), damit diese Muskeln bewusst oder unbewusst bewegt werden können.“ (Birkenbihl S. 26)
Dies bedeutet für die kleinen Jungen, dass sie sich viel bewegen MÜSSEN, um ihre körperliche und kognitive Entwicklung machen zu können. Wird diese ständige Bewegung verhindert, resultieren daraus auch geistige Behinderungen („tote Gehirne“, der Grund für Depression und Aggression).  Seit dem Zusammenhang der Neurogenese wissen wir zudem schon längst, dass wir alle, Kinder wie Erwachsene, nur mit regelmäßiger Bewegung unser tatsächliches Potential entfalten können.     

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  

Was bedeutet das fürs Tanzen?

Die Notwendigkeit sich zu bewegen, kann man auch beim Social Dancing in den abendlichen Tanzveranstaltungen finden. Vor allem in den südlichen Ländern wie Naher Osten, Türkei, Griechenland u.ä. kann beobachten, wie Männergruppen miteinander tanzen, weiß Vera F. Birkenbihl aus ihren Studien zu berichten. „Dort bewegen sich vor allem die Männer! (…) Tanz ist eine der Möglichkeiten innerhalb moderner Gesellschaftsformen kurzfristig Bewegung ins Leben zu bringen.“ (Birkenbihl S. 31)  

Auffallend zu beobachten ist für sie, dass gerade die Männer in Deutschland und der angrenzenden deutschsprachigen Länder, eher seltener in Tanz ausbrechen. Sie haben zwar begriffen, dass man sich bewegen muss um körperlich wie geistig fit zu bleiben, doch sie gehen lieber dreimal die Woche zum Joggen in den Wald oder ins Fitnessstudio.

Natürlich gibt es auch die burschikosen Mädchen, die klettern wollen oder sich raufen, doch das sind extrem wenige: ihnen liegt vor er Pubertät eher z.B. das Gummitwisten oder Hüpfekästen spielen.
„Die Stärken der Mädchen liegen darin, lange, komplexe, rituelle > choreografierte < Abläufe zu absolvieren. (…)

Auch die Jungen sind zur Disziplin bereit und fähig z.B. bei Teamsportarten, aber längere Abfolgen von Bewegungen können sie erst ab der Pubertät lernen, weshalb sich kleine Jungen noch nicht fürs Tanzen interessieren.
Spannend: auch große Tänzer begannen meist erst nach der Pubertät.“ (Birkenbihl S. 32)

Diese Fähigkeit wird der Feinmotorik zugeordnet. Es ist also ein ganz natürlicher Prozess, was wir in den Tanzschulen erleben.

 

Ein Tipps aus der Praxis: Jungen wollen gerne andere Jungs im Tanzkurs haben, spätestens mit dem Schuleintritt. Das macht es uns schwerer überhaupt die wenigen Jungen, die Tanzen möchten, zu halten, denn wenn nur einer kommt, bleibt der oft nicht und wenn der nächste kommt, sieht der auch wieder nur einen Haufen von Mädchen. Im Breaken ist das anders, wenn es ein explizieter Jungs-Kurs ist. Sprecht die Eltern darauf vorher an, was sie darüber denken, damit es dann keine Enttäuschungen in der Probestunde gibt. Vielleicht gibt es ja gleich 2 Freunde, die mitkommen wollen.

 

Grobmotorik – Jungen vor der Pubertät, Mädchen danach

Es beginnt mit der Körper-Bewegung, entweder, in dem der ganze Körper bewegt wird oder einzelne Körperteile. Dies geschieht vom ´Rumpf zu den Gliedmaßen, d.h. erst lerne das Kind seinen ganzen Körper zu bewegen, und dann Arme und Beine, zum Schluss den Kopf, Hände und Füße. Als letztes die Finger, diese gezielt anzusteuern geschieht zunächst nur indem man sich diesen separat z.B. in Fingerspielen widmet.

„Zur Grobmotorik gehört die Entwicklung von Kraft. (…) So stellt man weltweit fest, dass Jungen ab dem Alter von ca. 3 (statistisch) gleichaltrigen Mädchen physisch überlegen werden, sie rennen schneller und sind kräftiger, und das bleibt bis ins hohe Alter so.“

 

Feinmotorik (Mädchen vor der Pubertät und Jungs danach)

Im Bereich der Feinmotorik geht es um bestimmte Aspekte von Bewegung z.B. Balance, Grazie, Bewegungsfluss wie auch um die Fähigkeit eine Reihe von Bewegungsabläufen nacheinander auszuführen, was man heute Choreographie nennen würde.

 

Alle Kinder brauchen Bewegung – mehr die Jungs als die Mädchen

Wenn wir bedenken, was wir grade besprochen haben, dann ist klar, dass sich gerade die kleinen und großen Jungen ständig bewegen dürfen sollen. Denn nur dadurch ist es für sie von ihrer Evolution möglich, körperlich wie geistig optimal zu entwickeln. Das erschreckende für mich ist zu sehen, was unsere Schule mit unseren Jungs machen: sie werden zum stundenlangen Stillsitzen verdonnert. Mädchen fällt dies bei weitem leichter, weshalb sie es um Längen leichter haben in deutschsprachigen Schulsystemen gut abzuschneiden. Schauen wie die Statistiken der Schulschwänzer, -abbrecher und –wiederholer an, dann sehen wir, das Jungen hier deutlich stärker vertreten sind. Ich bin felsenfest der Meinung, dass das auf Kosten der Entwicklung der Potentiale der kleinen Jungen geht und nicht zu einer artgerechten Entwicklung gehört.

Mein Credo: Lass die Jungen und Männer dort, wo es sie hinzieht und bereitet ihnen dann, wenn sie dann in die Tanzschulen finden, eine echte Lernfreude, damit sie mit Lust wiederkommen und das Tanzen als eine Bereicherung empfinden und nichts, was sie auch wie in der normalen Schule „lernen“ müssen.

 Meine Literaturempfehlung, wenn dich das Thema interessiert:
* Jungen!: Wie sie glücklich heranwachsen von Steve Biddulph
* Jungen und Mädchen: Wie sie lernen von Vera F. Birkenbihl


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Jasmin

AutorinTanzbotschafterin

Über die Blog-Autorin: HeidemarieA. Exner ist passionierte Tanzlehrerin und zertifizierte I-TP-Tanzpädagogin und arbeitet als solche den ganzen Tag mit großen und kleinen und großen mit kleinen Menschen zusammen, um ihnen die bestmöglichsten Voraussetzungen zu schaffen, um ins Tanzen zu kommen und dadurch zu Leuchten. Mehr über sie erfährst du HIER

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