Welchen Platz in der Gesellschaft soll Tanzen einnehmen? (04.11.2020)

Über die Zukunft nachdenken
[aktualisiert: 13.11.2020; Lesezeit 8-12 min]
Neben meinem lautstarken rebellieren über die derzeit über uns erhängten Maßnahmen für unsere Tanzwelt und –wirtschaft, die für mich unakzeptabel sind, nehme ich mir hin und wieder die ein oder andere Minute zeit, um auf die andere Seite, also in die Nicht-Tanzwelt, zu schauen, um zu erfahren, was man dort über uns denkt.
Hier lese ich in Kommentaren z.B. unter meinen Facebook- und Instagram-Posts wie:
„Nun habt euch doch nicht so, es müssen alle ihren Beitrag leisten, wenn wir das Infektionsgeschehen reduzieren wollen“ oder auch „was wollt ihr denn noch, ihr bekommt doch voll finanzielle Unterstützung“ sowie „das bisschen Tanzen, darauf kann man auch mal eine Weile verzichten“ und auch „75% der Neuinfektionen sind im Graubereich, da müsst ihr doch einsehen, dass ihr da kein Extrasüppchen kochen könn, wie müssen alle entbehren und uns einschränken“. Ja, das sind abfällige Bemerkungen von Menschen, die nicht von unserer Situation betroffen sind. Mir ist es an der Stelle wichtig zu registrieren, was sie für eine Meinung haben und vor allem warum sie diese haben?
Einen ersten Anhaltspunkt bekam ich im Sommer schon über mein Radio, in dem es tatsächlich hieß, dass 50% der staatlichen Hilfen für Soloselbständige und private Unternehmer noch nicht abgerufen worden sind. Das schlimme an der Nennung dieses Faktum lag m.E. in der Betonung der Nachrichtensprecherin, denn es klang tatsächlich so, als ob wie es einfach nicht nötig hätten, die Gelder abzurufen und dementsprechend alles ja auch nicht so schlimm sein KANN.
Was man dazu wissen sollte: Dass die Bestimmungen teilweise krude sind, in meinen Worten ausgedrückt, um ein bisschen staatliche Hilfe zu bekommen, dass erfährt man nicht. Die Antragstellung ist z.B. entweder sehr aufwendig und umfangreich, oder die Mindestumsatzgrenzen für eine Überbrückungshilfe sind so absurd niedrig, dass viele einfach zu wenig Miese gemacht haben, und deshalb 3 x 1000 EUR nicht bekommen. Immer wieder höre ich auch von nebenberuflich arbeitenden TanzschulinhaberInnen, dass ihnen die Hilfe verwehrt wurde.
Ich will hier einfach mal zurechtrücken, was hier mit uns passiert und wir dargestellt und dann auch von Nicht-Tanzenden wahrgenommen werden. Und das ist die deutliche Mehrheit der Bevölkerung.
Es geht hier also nicht um wirklich finanzielle Unterstützung, sondern Summen, die ein gerade so noch den Laden nicht schließen lassen, manche sprechen schon von „Schweigegeld“. Das überlasse ich dir, liebe/ LeserIn, zu welchem Schluss du aus deiner eigenen Situation gekommen bist.
Ein zweiter Anhaltspunkt war für mich die Ansprache unserer Kanzlerin, als sie den 2. Lockdown verkündigte. Da meint sie, dass 75% der Neuinfektionen im Graubereich liegen und deshalb so generell gehandelt werden müsste.
Die Dame, die mir also diesen Kommentar auf niederschrieb, hatte es also so verstanden, dass in jedem Bereich der Gastronomie, Hoterllerie, auf Veranstaltungen und eben auch in Tanz- und Ballettschulen eben auch dieser 75%-Graubereich herrscht.
Was man dazu wissen sollte: Tanzschulen, Ballettstudios und andere Anbieter von Dienstleistungen rund ums Tanzen sowie Theater und Ballhäuser durften nach dem Lockdown NUR wiedereröffnen, wenn sie ein Hygienekonzept vorlegen konnten, welches den Vorgaben des Gesundheitsamtes konform ging. Schon hier gab es die ersten Einrichtungen, die das nicht leisten konnten und nicht wiedereröffnen durften, wenn sie nicht in eine größere Räumlichkeit umgezogen sind (wo Kredite aufgenommen wurden, um die neue Location auszustatten).
Zudem haben viele eine extra Hygieneschulung mitgemacht um bestens vorbereitet zu sein. Das bedeutete, dass durch die 1,5 m Abstandsregelung (von Bundesland zu Bundesland auch unterschiedliche, da gab es auch absurde Anordnungen von 40qm pro Tanzpaar im Raum) nicht mehr alle der KursteilnehmerInnen am Kurs, den sie bisher gebucht hatten, teilnehmen konnten. Teilweise wurde sogar begrenzt, wie viele TN überhaupt maximal in einen Kurs durften u.a. nur 10 TN oder „Hygieneeinheiten“. Nach der direkten Wiedereröffnung mussten Kunden im aufgezeichneten Quadrat tanzen, was das raumergreifende tanzen vollkommen ausbremste und ein umstricken des gesamten Kurskonzeptes abverlangte. Schließlich entspricht es der Natur des Tanzens, dass man sich frei im Raum bewegt. Auch wenn das mehr oder weniger für den jeweiligen Tanzstil gilt. Und: Einbahnstraßensysteme musste her und eingehalten werden, d.h. wo die einen reinkamen, durften die anderen nicht rausgehen, sondern wo ganz anders. Und gelüftet musste andauern werden, sehr viel gelüftet. Immer wieder und manche haben die ganze Tanzstunde durchgelüftet, so ernst war es ihnen mit den Schutzbestimmungen.
Mal davon abgesehen, dass Eltern ihre Kinder nur noch bis zur Tanzschultür bringen durften, Duschen geschlossen war, Garderoben außer Betrieb genommen wurden oder nur von 2-4 TN zeitgleich nutzbar waren, alle am besten schon umgezogen zu kommen hatten und auf dem Weg zum Tanzsaal ein Mund-Nasen-Schutz zu tragen hatten.
Vielerorts kam es dazu, dass Tanzkurse getrennt werden mussten, damit allen ein Liveunterricht geboten werden konnte, was zu einer prinzipiellen Überarbeitung in den Tanzschulen führte. Zudem war nur der reine Kursbetrieb (auch Workshops und Ausbildungen) gestattet und keinerlei oder marginal nennenswerte Veranstaltungen (also Bälle, Tanzpartys, Tanztees, kaum Tanzreisen, und große Weiterbildungsevents).
All das haben wir auf uns genommen, obwohl die gesamten Monate nach Wiedereröffnung (manche mussten 2 Monate schließen, andere sogar 3 Monate) umsatztechnisch einfach katastrophal waren. In einer meiner Facebook-Gruppen hatten wir eine Umfrage gestartet, wie viel jeder so verloren hat: im Durchschnitt waren das 30-70%, die der erste Lockdown und die Monate bis zum zweiten gesunde Unternehmen gekostet hat. Und hier sind dann z.B. bei einem Verlust von 100.000 EUR in den letzten 8 Monaten eine Hilfe von 20.000 eben auch nur 20% Wiedergutmachung. Dieses Geld fehlt dann an verschiedensten Ecken, das ist sicherlich vorstellbar.
Einige werden vielleicht jetzt sogar anführen, dass auch deshalb der Lockdown unberechtigt uns trifft, weil man mit uns schlechter umgeht als mit Verbrechern, denn da nimmt man sich noch vor Gerecht Zeit ihnen das, was ihnen angeschuldet wird, es auch nachzuweisen.
Klar, das sind gängige Gedankengänge, die auch ihre berechtigung haben und gedacht werden dürfen.
Heute möchte ich deine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenken: denn wenn es mir im Außen zu laut wird, dann gehe ich ins Innere.
Und das mache ich auch mit Tanzthemen, d.h. ich schaue mit dir nun mal ins Tanzen rein, denn ich vermute, dass wir hier viel mehr erreichen als über eine Situation zu lamentierern, die wir eh gerade nicht verändern können.
Das was wir können: Mit Tanzen intensiv beschäftigen. Thats my Job.
Ein Fazit, zu dem man kommen könnte, wäre: Es scheint, als ob wir doch nicht so wichtig sind für den Großteil der Gesellschaft, wenn wir trotz hygienischen einwandfreien Maßnahmen geschlossen werden? Sind wir doch zu elitär und bringen nur für einen winzigen Teil der deutschen Gesellschaft einen relevanten Wert?
Ich frage mich ein bisschen, ob wir vielleicht diese Pause von der Gesellschaft nutzen dürfen um übers Tanzen im weiteren und engeren Sinne nachzudenken z.B. wie wir attraktiver für mehr Menschen werden und in die Gesellschaft hineinwirken können, damit es nicht bei dieser verzerrten Wahrnehmung bleibt. Auch für die Zukunft wird das, meiner Meinung nach, sehr wichtig werden.
Denn es ist schon bezeichnend, dass wir unsere Konsumtempel noch geöffnet haben und die Kulturstätten zugesperrt sind – konsumieren ja, Kultur erleben nein.
Da sind m.E. die Wertigkeiten, die wir Kulturschaffende und die Kultur an sich haben, völlig verschoben, denn der Großteil unserer Kunden sind Intellektuelle und Akademiker und weniger die einfachen Menschen, also die, die sich lieber mit Trash TV ablenken ect.
Ich bin davon überzeugt, dass wir hier auf jeden Fall noch massig Luft nach oben haben.
Laut Statista haben 50% der Deutschen zwar Interesse allgemein am Tanzen, doch nur ca. 3 % laden dann tatsächlich in den Tanz- und Ballettschulen. Ist das nicht merkwürdig?
Ich gehe, unangetastet, was mein Rebellinnenherz für eine Haltung zur aktuellen politischen Lage hat, ein wenig der Frage nach, nämlich wie gesellschaftsfähig Tanzunterricht heutzutage eigentlich noch ist? Ich meine ja nur, vielleicht können wir auch etwas dazu beitragen, dass einfach noch mehr mit dem Tanz-Fieber erfasst sind als es derzeit der Fall ist.
Ist Tanzen nach wie vor noch etwas, was man gerne in der Jugend erlernen möchte oder wie selbstverständlich von den Eltern als Allgemeinbildung anerkannt ist?
Nein, die Zeiten sind leider vorbei – jedenfalls im Großteil der Bevölkerung – das meinen jedenfalls unfassbar viele meiner Interviewpartern meines „Einfach Tanzen“-Podcasts. Früher, ja da war es noch selbstverständlich zur Tanzschule zu gehen, aber heute gibt es einerseits zugegebener Maßen mehr Freizeitaktivitäten, andererseits spricht wohl das Tanzen zu wenig die gegenwärtig lebende Jugend bzw. die Menschen an.
Lass mich etwas provokativer Fragen: „Ist der aktuelle Zustand vielleicht auch die Quittung an uns Tanzhäuser und –stätten, an uns selbst, weil wir dann eben doch die Freude am Tanzen nicht ausreichend Menschen nahebringen konnten.
Müssen wir vielleicht diese Pause von der Gesellschaft nutzen um übers Tanzen im weiteren und engeren Sinne nachdenken z.B. wie wir attraktiver für mehr Menschen werden und in die Gesellschaft hineinwirken.
Denn es ist schon bezeichnend, dass wir unsere Konsumtempel noch geöffnet haben und die Kulturstätten zugesperrt sind – konsumieren ja, Kultur erleben und zusammensein nein.
Da sind m.E. die Wertigkeiten, die wir Kulturschaffende und die Kultur an sich haben, völlig verschoben, denn der Großteil unserer Kunden sind Intellektuelle und Akademiker und weniger die einfachen Menschen, also die, die sich lieber mit Trash TV ablenken ect.
Ich bin davon überzeugt, dass wir hier auf jeden Fall noch massig Luft nach oben haben. Laut Statista haben 50% der Deutschen zwar Interesse allgemein am Tanzen, doch nur ca. 3 % laden dann tatsächlich in den Tanz- und Ballettschulen. Ist das nicht merkwürdig?
Ich stelle mir schon seit längerem die Frage, wie gesellschaftsfähig Tanzunterricht heutzutage eigentlich noch ist? Ist es nach wie vor noch etwas, was man gerne in der Jugend erlernen möchte? Nein, die Zeiten sind vorbei – das meinen jedenfalls unfassbar viele meiner Interviewpartern meines „Einfach Tanzen“-Podcasts. Früher, ja da war es noch selbstverständlich zur Tanzschule zu gehen, aber heute gibt es einerseits zugegebener Maßen mehr Freizeitaktivitäten, andererseits spricht wohl das Tanzen zu wenig die gegenwärtig lebende Jugend an.
Die Frage ist für mich wie für einige liebgewonnene Kollegen der Schlüssel für das Problem „Kundenaquise“: denn es ist uns ja doch auch schon selber aufgefallen, dass wir viel zu wenige Tanzschulen für jedermann haben und Tanzschritte nicht ausreichend tanzbar und vor allem lernbar sind.
Da gibt es nach wie vor noch eine alternde Generation, die an festen Curricula festhält und auf konservativen Unterricht beharrt, wo man noch im Anzug allen alles zur gleichen Zeit diktiert und das Metronom den Takt der Gruppe bestimmt.
„Wo geht es mit Tanzunterricht für mich hin“, darf sich an dieser Stelle mein/e LeserIn sehr gerne fragen? „Was darf Tanzen denn für die Mitmenschen (wieder) sein?
Wie schaffe ich es möglichst alle in den Tanzkursen ins Tanzen zu bringen, alle mitzunehmen und keinen zu überfordern?“
Komme ich mit ganz normalen Cafégästen ins Gespräch, dann wird eher beim Thema Tanzen abgewunken, als dass ich höre „Oh ich tanze auch.“
Die meisten Begründungen lauten dann wie folgt, wenn ich noch überhaupt etwas erfahre:
„Das gab´s bei mir nicht zu Hause, Tanzen, ne, da haben mich meine Eltern nicht hingeschickt. Und später, ja später, da sind meine Freunde auch nicht hingegangen. Und jetzt, ach, da ist der Zug doch im Alter abgefahren. Wenn Freunde uns fragen würden, ja, dann vielleicht mal nen Anfängerkurs. Aber macht ja keiner, also ne, das Thema ist für uns durch. Ich hab ja auch keine Lust mich zu blamieren oder jetzt noch zu pauken oder ewig zu üben, deshalb, ne Schatz, da mach ma einfach was anderes…“
Oder auch: „Ja, ich hab mal getanzt, aber das ist schon länger her. Ich war da mal mit meinem Mann zum Tanzkurs, aber das hat uns nicht gefallen. Ich bin einfach nicht mit der Schnelligkeit des Kurses mitgekommen, da haben wir es sein gelassen. Wie, nochmal in eine andere Tanzschule gehen? Ja, darauf bin ich noch nicht gekommen, aber haste Recht, stimmt, hätte ich mal machen können. Weiß ich auch nicht, warum ich das nicht gemacht habe, ist ja naheliegend. Aber naja, wollte halt nicht noch ne Enttäuschung erleben, da hab ich das für mich abgehakt.“
Wie viele dieser Geschichten würde es heute gar nicht geben, wenn wir gut mit Menschen umgehen würden, statt sie in den Tanzkurse zu selektieren in „ist Tanzkurs geeignet (im Sinne „lernt schnell genug“) und ist nicht geeignet (im Sinne von „lernt zu langsam, muss viel zu oft wiederholen, kann sich nichst merken“). Wie bequem sind wir eigentlich geworden, uns tatsächlich die Mühe zu machen sich um alle im Kurs zu bemühen?
Allen Lernern gerecht werden zu können, das macht für mich Qualitätsunterricht aus. Und klar, dass kann auch durch verschiedene Leistungslevels differenziert werden wo man z.B. in eine Stufe 1, 2 oder 3 tanzt. Wichtig ist mir doch nur, dass jeder eine echte Chance bekommt, ins Tanzen kommen zu können.
Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Lernprobleme der Tanzunterrichtende selbst fabriziert und Tanzen bei ihm noch nicht ausreichend lernbar ist.
Lernbehinderungen gibt es in meiner Welt nicht, es gibt nur ein „ich spreche die Sprache des Tanzschülers“ oder nicht. Wenn ich in der Lage bin mich tatsächlich in den Anfänger (das kann ja per se auch u.U. einige Jahre sein) reinzufühlen, sein natürliches Lernverhalten verstehe und es dann schaffe, diese Prinzipien wie Kleinschrittigkeit, Nachvollziehbarkeit der Bewegungen, exzellente Bewegungsdemonstration, Positives Leiten u.a. ins angeleitete Lernen (Unterricht ist immer künstliches Lernen) zu übertragen, dann erreiche ich den Einzelnen optimal. Die Tanzschulen, die es mittlerweile genauso halten, erfreuen sich voller Nachfolgekurse und gehen zudem respektvoll mit den Mitmenschen um, die gerade am Anfang offen sind Neues zu lernen und dankbar sind, wenn sie jemanden haben, der sich die Mühe macht, ihr kaum vorhandenes Wissensnetzt mit ihnen zu knüpfen, so dass sie eine echte tänzerische Entwicklung machen können und Tanzen als etwas empfinden, was aus ihnen herauskommt und freudvoll ist.
Wenn wir Tanzen wieder einer breiteren Masse zugänglich machen können, dann dürften wir zu Recht behaupten, dass wir systemrelevant sind, denn um uns herum wäre ein nie endender Applaus von allen Seiten der Gesellschaft zu hören.
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Blog-AutorinHeidemarie A. Exner
Die TanzBotschafterin ist passionierte Tanzlehrerin, Dozentin und zertifizierte I-TP-Tanzpädagogin und arbeitet als solche den ganzen Tag mit großen und kleinen und großen mit kleinen Menschen zusammen, um ihnen die bestmöglichsten Voraussetzungen zu schaffen, um ins Tanzen zu kommen und dadurch zu Leuchten. Mehr über sie erfährst du HIER